innerer (seelischer) „Aufzug“

nach Prof. Dr. Gerald Hüther

Wenn wir uns mit Lernen auseinandersetzen, werden wir feststellen, dass der seelische Zustand des Lernenden ein grundlegender Faktor für das Lernen ist. Gerald Hüther[1] bezeichnet dies als den „inneren, seelischen Aufzug“ was ich einen sehr schönen und treffenden Begriff finde. Dieser vom Lernenden empfundene innere Zustand reicht von „ich fühle mich wohl und sicher“ (Aufzug ganz oben) über „ich fühle mich angespannt“ über „ich fühle mich gestresst“ bis hin zu „Angst und Panik“ (Aufzug ganz unten). Nun gibt uns die Gehirnforschung Aufschlüsse darüber, auf welche Bereiche des Gehirns wir in diesen verschiedenen Stadien bzw. Zuständen Zugriff haben bzw. welche aktiv sind.

  • Der Aufzug ganz oben – wir sind in unserer Sicherheit und fühlen uns wohl. In diesem Zustand haben wir vollen Zugriff auf unseren präfrontalen Kortex, den Teil des Gehirns, mit dem wir logisch denken und Handlungen planen können. Hier können wir neue Dinge aufnehmen und verarbeiten, Problemlösungsstrategien entwickeln, kreative Ideen haben usw.
  • wir verlassen unsere Sicherheitszone und kommen unter Spannung oder haben leichten Stress. In diesem Zustand können wir noch gut auf Gelerntes, auf Wissen und auf Erinnerungen zugreifen, denn hier greifen wir auf in der Großhirnrinde abgespeicherte Dinge zurück. Hier können wir zwar noch Gelerntes gut wiedergeben, haben aber für Problemlösungsstrategien und lernen nicht mehr viel Kapazität.
  • Wir kommen in starken Stress. Ab hier fangen wir an, nur noch auf Routinen und eingeübte Verhaltensmuster zurückzugreifen, da zur Bewältigung der „als gefährlichen empfundenen Situation“ unser limbisches System aktiv wird und der präfrontale Kortex und die Großhirnrinde zu größeren Teilen abgeschaltet werden[2]. Hier haben wir schon Probleme nicht so gut Gelerntes wiederzugeben, lernen und Problemlösung sind nicht mehr möglich.
  • Wir haben Angst und/oder Panik (Aufzug ganz unten)! In diesem Zustand funktioniert nur noch Angriff, Flucht oder Totstellen. Uns stehen nur noch Funktionen unseres Stammhirns zur Verfügung. In diesem Zustand können wir uns oft auch nicht mehr an Geschehenes erinnern.

Verschiedene Faktoren führen dazu, dass entweder unser Stresslevel zu- oder abnimmt, also unser „Aufzug“ entweder „nach unten“ oder „nach oben“ geht. Diese stammen im Regelfall aus unseren Erfahrungen, sie sind also (meist unbewusst) erlernt. Als Erwachsene können wir diese erlernten Faktoren (Stressoren) identifizieren und bewusst verarbeiten und so unseren Aufzug (Stresslevel) steuern. Bei Babys, Kleinkindern und Kindern ist diese bewusste Verarbeitung noch nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, deshalb sind wir als Erwachsene hier gefordert, deren „Aufzug“ sozusagen von außen zu steuern. Jugendliche haben mit wachsendem Alter die Möglichkeit der eigenen bewussten Verarbeitung, die wir aber als Erwachsene z.B. durch unser Vorbild anlegen und fördern müssen. Zudem sollten wir uns als Erwachsene immer deutlich machen, dass wir durch positive Erfahrungen, die wir den Heranwachsenden ermöglichen, immer etwas anlegen, was in der weiteren Entwicklung dazu führt, dass der Aufzug nach oben gehen kann. Genau das gleiche gilt natürlich auch für negative Erfahrungen, hier wird etwas angelegt, was in der weiteren Entwicklung dazu führt, dass der Aufzug nach unten geht. Werden zu viele negative Erfahrungen gemacht führt das zu Traumatisierungen.

Zeigen Kinder uns Aversionen gegen zum Beispiel bestimmte Schulfächer, kann dies ein Zeichen dafür sein, dass gemachte schlechte Erfahrungen in diesem Schulfach dazu führen, dass das Kind in Stress kommt. Um weiteren schlechten Erfahrungen aus dem Weg zu gehen, geht das Kind zum Beispiel in den Rückzug – sein Aufzug ist in einem Bereich, wo es nur noch „funktioniert“ (limbisches System). Weiterer Druck wird hier zu weiteren schlechten Erfahrungen führen und im schlimmsten Fall zu einem Trauma mit einem bestimmten Schulfach. Hier müsste man eher sehen, wie man den Stresslevel reduzieren und negative Erfahrungen durch positive ersetzen kann.

Zeigen Kinder Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Hyperaktivität, extremen Rückzug usw., ist dies ein Zeichen dafür, dass das Kind schon in einem Angriff-/Flucht- bzw. Lähmungszustand ist und auf sein Verhalten überhaupt keinen Zugriff mehr hat. In einem solchen Zustand haben Druck, Ermahnung, Strafe, Logik usw. überhaupt keinen Sinn, da das Kind nicht erreicht werden kann! Hier hilft nur ein kompletter Situationswechsel – raus aus der Situation, die den Zustand erzeugt hat. Oft können Kinder sich an solche Situationen dann auch überhaupt nicht mehr erinnern. Das hat nichts damit zu tun, dass sie die Situation leugnen wollen, es ist schlicht und ergreifend so, dass in diesem Zustand Erinnerung daran nicht möglich ist.

Noch ein kleiner Exkurs zu der verbreiteten Meinung „wir brauchen Stress zum Lernen“ bzw. „um zu lernen, müssen wir unsere Komfortzone verlassen“. Ja das ist im Prinzip richtig, nur ist dabei zu beachten, wer den Stress erzeugt bzw. das Verlassen der Komfortzone veranlasst. Ist das Verlassen der Komfortzone intrinsisch motiviert, also geht vom Lernenden aus, dann ist der obige Satz ganz richtig, denn Neues/Unbekanntes löst immer eine Spannung bzw. einen gewissen Stress aus, führt aber dazu, dass wir neue Erfahrungen machen können. Wenn wir diese neuen Erfahrungen in einer selbstbestimmten Geschwindigkeit mit selbstbestimmten Mitteln machen dürfen, so dass wir genügend in unserer Sicherheitszone bleiben können, führen sie im Regelfall zum Erfolg. Geht jedoch der Stress oder das Verlassen der Komfortzone vom Lehrenden aus, ist also extrinsisch verursacht, dann kann es – besonders wenn der Lehrer oder das Fach schon negativ besetzt sind – passieren, dass der Lernende die Sicherheit verliert und nur in Stress kommt – und nichts lernt, da Geschwindigkeit, Mittel und Methode nicht mit den vorher gemachten Erfahrungen zusammenpassen.

[1] Gerald Hüther: „Den Übergang meistern – Von der Ressourcenausnutzung zur Potentialentwicklung“, Auditorium Netzwerk (2009), „Biologie der Angst: Wie aus Streß Gefühle werden“, Vandenhoeck & Ruprecht (2016)

[2] siehe auch mein Aufsatz „biologisches zu Angst und Stress

Titelbild von StarGladeVintage auf Pixabay

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