Entwicklung der sozialen und emotionalen Psyche von Kindern und Jugendlichen

nach Dr. Michael Winterhoff „SOS Kinderseele“

Die oben beschriebenen Entwicklungsstufen der Psyche sind – anders, als zum Beispiel unsere physische Entwicklung – keine Entwicklungsstufen, welche sich von selbst einstellen, sondern sie sind von der Umwelt abhängig und durch die Umwelt beeinflusst und geprägt. D.h. Eltern und Bezugspersonen und später Erzieher*innen und Lehrer*innen sind verantwortlich dafür, dass die richtigen Rahmenbedingungen – also auch die jeweils altersgemäß richtige Ansprache und Resonanz zum Kind – geschaffen werden, um diese Entwicklungen möglich zu machen. Wenn also im negativen Fall keine oder nicht altersgemäße Resonanz und Ansprache zum Kind/Jugendlichen stattfindet, entwickelt sich die Psyche des Kindes/Jugendlichen nicht altersentsprechend richtig, es bleibt evtl. auf bestimmten (kindlichen) seelischen Entwicklungsstufen stehen und bildet dadurch inadäquate seelische Bewältigungsmuster aus.

Dr. Michael Winterhoff beschreibt dies eindrücklich in seinen Büchern. Für diese Ausführungen legen wir vor allem sein Buch „SOS Kinderseele“ zugrunde. Seine Erfahrung als Kinder- und Jugendpsychiater haben ihm gezeigt, dass bei bestimmten Verhaltensweisen der Eltern, die nicht dem seelischen(!) Entwicklungsstand des Kindes entsprechen, die Kinder in frühkindlichen Verhaltensmustern als Reaktionsmuster stehenbleiben und sich seelisch nicht richtig weiterentwickeln können.

Er identifiziert dabei 3 verschiedene Verhaltensweisen von Eltern, die das Kind in seiner seelischen Entwicklung behindern. Je früher das geschieht, umso gravierender sind die Folgen für das Kind. Er beschreibt dieses Rollenverständnis der Eltern so:

  1. Die Eltern als Partner: schon das Kleinkind wird als Partner behandelt, mit dem man alles besprechen und ausdiskutieren muss. So entwickelt das Kind kein Verhältnis zu einer Führung durch Erwachsene. Schon im Kindergarten kann das zu Problemen führen, da es erst Anweisungen folgen will, wenn es das ausgehandelt hat.
  2. Die Eltern als Diener ihres Kindes: dem Kind will man jeden Wunsch erfüllen, jede Frustration ersparen. Das Kind wird gefragt und bestimmt, wann es was essen will, wann schlafen, was tun etc. Das weitet sich dann oft aus auf den Urlaub, das Auto etc., die vom Kind bestimmt werden. Das Grundmuster, das beim Kind verinnerlicht wird, ist, dass es alles bestimmen kann. Es bleibt in seiner frühkindlichen „Machtphase“ stehen und wird durch dieses Verhalten der Eltern an der weiteren seelischen Entwicklung gehindert. So wird das Kind überall ganz selbstverständlich versuchen, ebenfalls die Umgebung und deren Verhalten zu bestimmen, und erstaunt oder unzufrieden oder ärgerlich werden, wenn die Umgebung (Erzieherin, Lehrer) sich nicht so verhalten, wie es das von den Eltern von klein auf gewöhnt ist. Zudem hat es kaum Frustrationstoleranz gegenüber der Nichterfüllung von seinen Wünschen entwickeln können, was dann häufig zu mehr oder weniger vehementen Ausbrüchen oder Verweigerungen führen kann.
  3. Die Eltern sind symbiotisch mit ihrem Kind, das bedeutet, sie identifizieren sich mit ihm wie mit einem Teil von sich selbst. Dazu gehört auch, dass die Eltern – meist unbewusst – das Kind als ihr Produkt sehen, das ein Erfolgsmodell werden soll, also die allerbesten Bedingungen und Chancen bekommen soll, bei dem nichts versäumt werden darf. Sie tun alles, setzen alles ein, damit es ihrem Kind möglichst gut geht, es möglichst optimal gefördert wird… und verteidigen ihr Kind in allen Lebenslagen bis aufs Äußerste. Sie können kaum einsehen, dass ihr Kind etwas falsch gemacht haben könnte. So wird in voller Überzeugung, recht zu haben, die Schuld immer bei anderen gesucht. Das sind Eltern, die mit anderen Eltern in Konflikt kommen, weil deren Kind mit ihrem Kind in Konflikt gekommen ist.

Geburt bis 9 Monate

in dieser Phase geht es vor allen Dingen um die Befriedigung der Basis-Bedürfnisse des Neugeborenen, das ja in eine völlig neue Welt gestellt ist. In dieser Phase bildet sich das Urvertrauen dadurch aus, dass die Mutter in der direkten Umgebung wahrnehmbar, fühlbar im Körperkontakt, Hülle gibt, direkt „ansprechbar“ ist und unmittelbar auf die Bedürfnisse reagiert.

Ab dem neunten Monat

von hier an beginnt das Kind, sich seine Umgebung, seine Welt selbst zu erschließen. Damit einhergeht, dass nun die Mutter und die Bezugspersonen nicht mehr unmittelbar auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen. Es muss lernen zu warten, anfänglich auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten, und dabei erleben, dass das aushaltbar ist. Dadurch entsteht ein erstes Gefühl für „Fremdbestimmtsein“, zum einen durch die Umwelt, an der man „anstößt“, und zum anderen durch die Bezugspersonen, die nicht mehr beliebig steuerbar sind und einem Grenzen setzen.

10. bis 16. Monat

in dieser Phase erlernt das Kind, dass sich nicht alle Gegenstände gleich verhalten, dass es lebendige und nicht lebendige Gegenstände gibt, dass der Mensch sozusagen der besondere Gegenstand ist, mit dem man nicht alles machen kann, was man will, der sich nicht alles gefallen lässt, der selbst aktiv wird und sich wehrt. Das sollte an den Erwachsenen und auch an (gleichaltrigen) Kindern erlebbar werden. Unser Wissen von und unsere Akzeptanz der Eigenständigkeit von anderen Menschen, hier vor allem der Erwachsenen, von Grenzen der eigenen Steuerung der Umwelt, von Fremdbestimmung – also Anweisungen Folge zu leisten – und von Vorbild werden in diesem Alter als habituelle Grundmuster angelegt.

ab dem 20. Monat

beginnt das Kind zwischen gewohnter und fremder Umgebung zu unterscheiden. Das Gewohnte verleiht Sicherheit, das Ungewohnte ruft erst einmal Unsicherheit hervor. Hier werden grundlegende Muster von Vertrautem angelegt, die einem ein Sicherheitsgefühl vermitteln, zum einen durch positive Zuwendung, Körperkontakt, Zärtlichkeit, sich geborgen fühlen. Leider wird aber auch (wenn es von außen gesehen negativ ist) z.B. durch Liebesentzug, bestraft, angeschrien, weggestoßen, geschlagen, unterdrückt werden etc. ein unbewusstes Grundmuster von Vertrautem und ein Sicherheitsgefühl angelegt.

ca. 2 Jahre

hier beginnt das Kind ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass es abgesehen von anderen auch größere, stärkere, beschützende, aber auch bedrohliche, gefährliche Menschen geben kann. In diesem Alter lernt das Kind auch, seine Ausscheidungen zu kontrollieren.

ab ca. 2½ bis 3 Jahren

hier erst fängt das Kind nun an, deutlich zwischen sich und anderen zu unterscheiden, sagt zum ersten Mal „Ich“ zu sich. Dies ist ein großer Schritt auch in Bezug auf die Steuerung. Hatte das Kind bis dahin das Gefühl, die Welt um sich herum zu steuern, ist es nun so, dass es das Gefühl dafür entwickelt, selbst auch von Erwachsenen gesteuert zu werden. Dies ist eine sehr wichtige Voraussetzung für die spätere Beziehungsfähigkeit. Ab hier kann das Kind die Eltern und dann in der Folge auch andere Erwachsene als bestimmende Bezugspersonen anerkennen. Das ist neben der Kontrolle der eigenen Ausscheidungen die eigentliche Voraussetzung für den Eintritt in den Kindergarten.

3 bis 6 Jahre

durch die gemeinsamen Routinen, Regeln und Gebote in der Familie und im Kindergarten lernt das Kind in der Auseinandersetzung mit außen, was richtig und was falsch ist – wobei richtig oder falsch nicht als Gewissensinstanz verstanden werden kann, denn das Kind nimmt das ungefiltert unmittelbar in seine Seele auf. Alle Routinen und sozialen Spielregeln geben dem Kind Sicherheit und ermöglichen ihm, Grundkompetenzen im Sozialen zu erwerben. Das Kind wird aus Liebe zu den Eltern und auch zu verlässlichen Bezugspersonen gerne für den Erwachsenen die Regeln befolgen und Aufgaben erledigen. Es sollte die Gelegenheit dazu bekommen und bestätigt werden, also positive Gefühle damit verbinden können. Die Grundlage für eine rationale Entscheidung, also ich wasche jetzt ab, damit wir morgen sauberes Geschirr haben, ist noch nicht gegeben. Fremdbestimmung anzunehmen, wird durch Routinen und geliebte Autoritäten erlernt. Es macht keinen Sinn, in diesem Alter mit rationalen Gründen zu argumentieren. Das Kind kann sie noch nicht verarbeiten. Alles spielt sich auf der Gefühlsebene ab. Hier werden wichtige Weichen gestellt, ob die intrinsische Motivation gestärkt oder durch zu viel extrinsische Motivation, also Lob oder Strafe, ersetzt und dadurch die intrinsische Motivation abgebaut wird.

6 bis 12 Jahre

in dieser Phase macht das Kind einen deutlichen Entwicklungsschub! Neben der körperlichen (Zahnwechsel) entsteht seelische Schulreife. Es öffnet sich immer mehr der Welt und bekommt immer mehr Interessen, die ihm immer neue Lernfelder eröffnen. Durch den Übergang in die Schule wird das soziale Umfeld massiv erweitert und neue erwachsene Bezugspersonen, eine große Gruppe von Kindern und viele neue Spielregeln, die beachtet werden müssen, müssen wahrgenommen, verstanden und bewältigt werden. Dadurch können in diesem Alter viele soziale Kompetenzen erlernt werden. In der Auseinandersetzung in einer größeren Gruppe Gleichaltriger muss jeder seinen Platz, seine Anerkennung, seine Freunde und Spielkameraden finden. Aber noch immer sind Erwachsene geliebte Autoritäten, notwendig, um in der Auseinandersetzung mit ihnen soziale und emotionale Kompetenzen zu erlangen. Am Widerstand wird erprobt, ob die Erwachsenen ihre Regeln ernst nehmen oder nicht. Der liebevolle(!) Widerstand der Erwachsenen ist nötig, um Orientierung zu bekommen und sich selbst einordnen zu können. (Jesper Juul: Nein aus Liebe) Ein Schüler in diesem Alter wird Hausaufgaben aus Interesse und für den Lehrer evtl. auch für die Eltern machen, auf keinen Fall jedoch für sich selbst. Hier kann sich die Individualität im größeren Zusammenhang entwickeln und formen. Hier liegt eine sehr wichtige Aufgabe von Schule! Durch Formen des individualisierten, kooperativen und selbstverantwortlichen Lernens kann das ab der ersten Klasse gut gefördert werden. Wichtig ist dabei zu beachten, dass Schüler von anderen Schülern in der Regel besser lernen können als von Erwachsenen. Schule sollte das möglich machen.

ab 12 Jahre

jetzt erst erwacht das Urteilsvermögen. Deshalb wird alles beurteilt! Es werden Freundschaften und soziale Beziehungen immer wichtiger. Dadurch erwacht das Interesse am Sozialen und an sozialen Zusammenhängen – es entsteht ein ganz neues emotionales Lernfeld, welches auch von Eltern, Bezugspersonen und Lehrer*innen so begleitet werden muss, dass das Kind positive und reale Erfahrungen auf diesem Gebiet machen kann. Die vermehrt auftretenden Widerstände müssen positiv genommen werden und von den Erwachsenen liebevoll, aber konsequent ausgehalten werden. Das erwachte Urteilsvermögen versucht sich auf allen Feldern und stellt die Erwachsenen laufend auf die Probe. Insofern gehören Enttäuschungen und deren konstruktive Verarbeitung unbedingt zum seelischen Reifungsprozess dazu. Negativ wirkt sich besonders in diesem Alter aus, wenn die Erwachsenen entweder den Widerstand brechen wollen oder im anderen Extrem als Partner alles ausdiskutieren wollen oder immer nachgeben und das Kind bestimmen lassen, um die Liebe des Kindes zu erhalten. Damit wird die seelische Reifung des Kindes behindert!

ab 14 Jahre

beginnt mit dem fortgeschrittenen körperlichen Umbau der Pubertät auch die „Entzauberung“, d.h. die Welt ist nicht mehr nur gut, schön und richtig und diejenigen, die vorher Autoritäten im Leben waren, beginnen immer mehr Fehler zu haben und werden kritisch hinterfragt. Das Bewusstsein für das eigene Gefühlsleben erwacht. Ganz neue Gefühle entstehen! Die Gefühle gehen auf und ab und überwältigen einen. Damit einhergeht ein zunehmendes Empfinden für die eigene Individualität und Eigenständigkeit. In dieser Phase ist es wichtig, dass die „Autoritäten“ mit der teils massiven Kritik positiv umgehen, zu sich und ihren Fehlern stehen und trotzdem ihren Prinzipien treu bleiben. Der Jugendliche sucht Orientierung durch Abgrenzung und gegenteilige Taten, die Reaktionen der Erwachsenen provozieren sollen. Die latente Frage schwingt immer mit: Liebst Du mich wirklich? Das heißt, auch wenn ich mich in Deinen Augen unmöglich benehme? Kannst Du mich in meinem Wesen erkennen?

ab 16 Jahre

ab hier beginnt der Jugendliche, auch sich selber zu hinterfragen und Fehler an sich selber festzustellen. Zugleich beginnt er aus eigenen Stücken, Verantwortung für sich und für die Welt zu übernehmen. Auch hier sind die Bezugspersonen noch von großer Bedeutung, da sie noch immer Vorbild sind und den notwendigen, liebevollen – wenn auch besser meist passiven – Widerstand zum seelischen Wachsen des Jugendlichen bieten müssen. Sie sind zur Orientierung nötig und um die nötigen Sicherheiten zu bieten, damit der Jugendliche sich selbst erproben kann.

Jojo & Michael Harslem (https://harslem.de )

Titelbild von lisa runnels auf Pixabay

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