Rückblick 2020

wir glauben zu viel und wissen zu wenig

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Was ist mit uns passiert? Der Versuch einer Analyse… Die sich naturgemäß nicht nur auf dieses Jahr bezieht, sondern weiter zurückgreift und mehrere Ebenen hat.

In dem Maße, in dem wir uns von gesellschaftlichen und religiösen Dogmen in den letzten Jahrhunderten versucht haben zu befreien bzw. sie auf eine „aufgeklärte“, „wissenschaftliche“ Ebene zu heben, haben sich neue mentale Modelle etabliert, die wir aus meiner Sicht zu wenig hinterfragen, obwohl sie unsere Sicht auf die Welt massiv beeinflussen – oftmals vielleicht auch ohne, dass wir es merken. Wenn wir an dem Punkt sind, dass wir ein mentales Modell übernehmen, ohne es zu hinterfragen, sind wir im Glauben. Nicht dass ich Glauben falsch finde, ganz im Gegenteil, er ist wichtiger Bestandteil unseres spirituellen Lebens. Was mich stört ist Vermischung von Glauben und Wissen, wenn wir Glauben für Wissen halten und andersherum.

Geld/Wohlstand/Reichtum:

In Bezug auf Geld bzw. materiellen Wohlstand hat sich aus meiner Sicht eine Weltanschauung etabliert, welche ich als „Post Calvinistische[1]“ bezeichnen würde. Wirtschaftlicher und materieller Erfolg sind heutzutage wichtige Faktoren für gesellschaftliche Anerkennung geworden – was ursprünglich sicher richtig war, weil dieser wirtschaftliche und materielle Erfolg mit dem Fleiß und dem Einsatz des einzelnen in Verbindung gebracht wurde. Wenn jedoch diese Koppelung nicht mehr zutrifft bzw. der Rückschluss gemacht wird „er hat materiellen Wohlstand, weil er fleißig ist“, dann sind wir nicht mehr bei dem was, real ist, sondern bei einem Glauben. In Zeiten von Neoliberalismus, Finanzspekulation usw. kann dieser Glaube zu fatalen Fehleinschätzungen führen, besonders im Hinblick auf die Persönlichkeitsstruktur von Menschen und Organisationen, die sehr viel besitzen.

Macht und Einflussnahme:

Des Weiteren wird aus meiner Sicht der Zusammenhang zwischen Geld und Macht, in Form von Einflussnahme viel zu wenig beleuchtet. Schon Philipp II. von Makedonien sagte: „Es ist keine Mauer so hoch, dass sie nicht ein mit Gold beladener Esel übersteigen könnte.“ (https://de.wikiquote.org/wiki/Philipp_II._von_Makedonien ) Ich würde sagen, es ist unbestritten, dass je kapitalkräftiger jemand ist (als Person oder Organisation), desto mehr Einfluss kann sie/er nehmen und desto mehr Macht kann sie/er ausüben, hat sie/er. Etwas, das in allen Gesellschaftsschichten von unten nach oben zu beobachten ist. Und erstaunlicherweise immer salonfähiger geworden ist, da es aus meiner Sicht stark mit dem mentalen Modell aus dem vorigen Absatz zusammenhängt. Zu bedenken ist aber, dass Macht und Einflussnahme zwei Eigenschaften haben:

  1. Macht korrumpiert (https://www.derstandard.at/story/2000006331597/macht-korrumpiert-auch-die-ehrlichen ), was uns die Geschichte ja auch hinlänglich gezeigt hat.
  2. Einflussnahme und Machtausübung will in der Regel unerkannt bleiben, um nicht auf Widerstand der Beeinflussten und oder Unterdrückten zu stoßen.

Wissen wir, wer in welcher Form auf den verschiedenen Ebenen unserer globalisierten Gesellschaft Einfluss nimmt? Wissen wir etwas über die moralischen und ethischen Grundsätze derer, die Einfluss nehmen? Oder glauben wir einfach nur, dass sie schon das Richtige tun werden?

Wissenschaft:

Was ursprünglich völlige Gegensätze waren– „Glaube und Wissenschaft“ – ist aus meiner Sicht im Laufe der Geschichte immer mehr zum „Glaube an die Wissenschaft“ geworden, wo wir dann bei etwas völlig Unwissenschaftlichen angekommen wären, denn es entspricht ja nicht der Wissenschaft etwas zu glauben, sondern etwas nachvollziehbar zu belegen. „Methodisch kennzeichnet die Wissenschaft entsprechend das gesicherte und in einen rationalen Begründungszusammenhang gestellte Wissen, welches kommunizierbar und überprüfbar ist, sowie bestimmten wissenschaftlichen Kriterien folgt.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaft ) Zudem sollten wir uns drei Fragen stellen

  1. wer finanziert Forschung und Wissenschaft?
  2. wollen diejenigen, die finanzieren, Einfluss nehmen?
  3. sind Forscher und Wissenschaftler beeinflussbar?

Auch hier kann ich ein mentales Modell sehen: „weil es wissenschaftlich ist, ist es wahr“, welches mehr ein Glaubenssatz als ein wissenschaftlich erwiesener ist. Und wenn wir dann nur noch eine wissenschaftliche Meinung hören (was eher den übernächsten Punkt betrifft) – obwohl in der Wissenschaft durchaus kontrovers diskutiert wird – dann ist das gewisser Weise ähnlich wie mit dem heliozentrischen Weltbild von Kopernikus (1543) (https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_Kopernikus ), wo nicht der wissenschaftliche Diskurs die Meinungshoheit hatte, sondern das von den Herrschenden bis 1757 (https://de.wikipedia.org/wiki/1757#Religion ) (in diesem Fall der Kirche) gewünschte Glaubensmodell.

Politik:

Gesagt wird, wir leben in einer Demokratie (https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie ), in der die Macht vom Volk ausgeht. Genauer gesagt leben wir in einer „repräsentativen/parlamentarischen Demokratie (https://de.wikipedia.org/wiki/Repr%C3%A4sentative_Demokratie )“ in der „Volksvertreter“ die Interessen der Bürger vertreten. Ist dies auch so? Oder vertreten die gewählten Repräsentanten nur noch teilweise oder gar nicht mehr die Interessen der Bürger? Hat der Staat mehr Kontrolle über den Bürger als der Bürger über den Staat? Hat sich hier etwas verselbstständigt? Aus meiner Beobachtung der letzten 30 Jahre hat es hier eine langsame, aber kontinuierliche Verschiebung von einer Politik, welche „die Interessen der Bürger hört“, hin zu einer Politik, bei welcher „der Bürger die Vorgaben der Politik befolgen soll“, gegeben. Dann sind wir aber auch hier nicht mehr im Wissen in einer Demokratie zu leben, sondern sind beim Glauben in einer Demokratie zu leben.

Journalismus und Presse:

Die Vierte Gewalt (https://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Gewalt ) im Staat, hat die Aufgabe eine mündige, informierte und damit entscheidungsfähige Gesellschaft zu kreieren. Dieses Bild sitzt tief in uns, aber entspricht es der Realität? Wenn es nicht der Realität entspricht, dann sind wir auch hier in gewisser Weise beim „Glauben an den Journalismus, die Presse“. Hat sich langsam über die letzten Jahrzehnte etwas verändert? Aus meiner Sicht ja, denn wo es früher noch ein recht breites Spektrum von „rechts bis links/konservativ bis egalitär“ gab und durchaus renommierte Vertreter den Herrschenden und Mächtigen sehr genau auf die Finger geschaut haben, wurde das Spektrum kontinuierlich schmaler und aus investigativ wurde immer mehr regierungstreu (https://www.cicero.de/kultur/investigativer-journalismus-von-der-inflation-eines-begriffs ). Es deutet einiges darauf hin, dass auch hier von verschiedenen Interessensgruppen (Staat/Politik, Wirtschaft usw.) Einfluss genommen wird. Investigativer kritischer Journalismus ist in meinen Augen eine Erscheinung von alternativen Randgruppen geworden, die vom Mainstream als für die Gesellschaft „gefährliche Fantasten“ und „Verschwörungstheoretiker“ abgestempelt werden. Aber was bedeutet das? Eigentlich doch, wir sollen glauben, was der Mainstream uns sagt, und sollen es nicht kritisch hinterfragen. Dann sind wir aber auch hier an diesem Punkt beim Glauben und nicht beim informierten, aufgeklärten Bürger.

Öffentlicher und privater Diskussionsraum:

Dieser ist immer kleiner geworden, in diesem Jahr vielleicht noch kleiner, aber es ist eine Entwicklung der vergangenen Jahre. Heute Ende des Jahres 2020 sprechen wir schon von einer geteilten Gesellschaft. Warum ist das so geworden? Aus meiner Sicht und unter Einbeziehung des Vorhergesagten ist es recht logisch. Über Fakten können wir, wenn wir uns Mühe geben, kontrovers diskutieren und zu einem Konsens kommen oder nicht, im Regelfall gewinnen wir aber auf jeden Fall neue Erkenntnisse. Über Glaubensfragen ist es viel schwieriger emotionslos und ohne persönlich angegriffen zu sein zu diskutieren und deshalb wird es immer enger im Diskussionsraum. Es kommt zu Tabuisierungen, Anfeindungen, Beschimpfungen usw. Und diese erlebte „Spaltung der Gesellschaft“ ist aus meiner Sicht eben nicht eine Spaltung entlang von Fakten, sondern an Glaubensfragen.

Wenn man heute Angst hat vor einem „todbringenden“ Virus und das nicht auf einer breiten wissenschaftlich fundierten und diskutierten Basis, dann ist das nichts anderes, als wenn die Kirche sagt, es gibt kein heliozentrisches Weltbild, sondern nur ein geozentrisches – ja es gibt natürlich schon einen Unterschied die Regierung beruft sich auf „die Wissenschaft“ und die Kirche auf „die Bibel“.

Wobei wir bei einem wichtigen weiteren Faktor wären, der Angst. Aus der Forschung wissen wir, dass Angst weite Bereiche unseres logischen rationalen Denkens außer Gefecht setzt. Sie ist somit ein sehr schlechter Partner in kritischen Situationen, welche logisches Denken und Abwägen verschiedener Fakten erfordern. Die verschiedenen Ängste, welche im vergangenen Jahr aus den verschiedensten Richtungen auftraten bzw. geschürt wurden, haben nicht dazu beigetragen, dass wir uns besser verständigen konnten, ganz im Gegenteil, sie haben in vielen Fällen Fronten verhärtet. Zu diesem Thema hat Dr. Daniele Ganser einen interessanten Vortrag in Wien gehalten „Corona und die Angst“(https://youtu.be/zoagh8deyRo ).

Mein Resümee:

Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns fragen, inwieweit wir mentale Modelle und Glaubenssätze soweit zugelassen haben, dass wir die Realität um uns herum nach ihnen beurteilen – wir also systemrelevant werden. Und inwieweit durch Ängste unsere Urteilsfähigkeit eingeschränkt wurde. Natürlich neigen wir Menschen dazu, immer wieder systemrelevant zu werden und Ängste zu haben, deshalb sollten wir uns immer wieder selbst überprüfen, denn nur dann fangen wir an, frei zu werden, denn nicht andere haben, sondern wir selbst bekommen die Kontrolle über unsere Gedanken und Gefühle.

Vor diesem Hintergrund ist mir für das kommende Jahr wichtig

  • dass an ich meinen Ängsten arbeite und sie erkenne – Angst ist nur ein Gefühl da in uns aufsteigt und sie ist nicht real
  • dass ich mich selbst kritisch beobachte, inwieweit ich etwas glaube oder etwas weiß
  • dass ich mehr denn je tolerant bin gegenüber all denen, die eine andere Meinung, einen anderen Glaubenssatz haben – denn nur dann habe ich die Chance in einer toleranten Gesellschaft zu leben
  • dass ich bei dem, was mir präsentiert wird, die Faktenlage prüfe, um nicht unversehens wieder etwas zu glauben

Andere Perspektiven - Intelligenz der Masse

1906 besuchte Galton (https://de.wikipedia.org/wiki/Francis_Galton ) die jährliche westenglische Nutztiermesse, bei der ein Ochsen-Gewicht-Schätz-Wettbewerb veranstaltet wurde. Für sechs Pence konnte jeder seine Schätzung abgeben. Insgesamt 787 Personen, sowohl Unbedarfte als auch einige Experten, nahmen teil und gaben einen Tipp ab.

Galton entschloss sich zu einem Experiment, um die Dummheit der Masse zu beweisen: Er wertete die fast 800 Schätzungen statistisch aus (https://galton.org/cgi-bin/searchImages/galton/search/essays/pages/galton-1907-vox-populi_1.htm ). Der Median aller Schätzungen (1207 Pfund) kam dem tatsächlichen Gewicht des Ochsen (1198 Pfund) erstaunlich nahe (Abweichung von 0,8 Prozent). Galtons Versuch, die Dummheit der Masse auf diese Art zu beweisen, war somit gescheitert. (https://de.wikipedia.org/wiki/Francis_Galton#Intelligenz_der_Masse )

Der SWR dieses Experiment mit einem Hund wiederholt und kam zu dem gleichen Ergebnis (https://youtu.be/F7QIo1i-un0 ).

Wenn wir also nicht mehr bei Fakten sind, sondern bei Meinungen, ist es offensichtlich gut, wenn es möglichst viele verschiedene gibt, denn dann kann die Summe offensichtlich etwas Positives ergeben.

Ausblick

Den Blick richten, nicht nur auf das, was wir nicht mehr wollen, was aus unserer Sicht falsch läuft, sondern den Blick nach vorne richten auf das, was wir uns wünschen.

In welcher Welt/Gesellschaft will ich in Zukunft leben? In welcher Welt/Gesellschaft sollen meine Kinder/Enkel leben?

Fantasien/Ideen haben, denn diese haben in der Vergangenheit in der Welt/Gesellschaft Entwicklungen angestoßen und Innovationen gebracht. Und es waren immer die Menschen – einzelne oder viele – und nicht die herrschenden Machtstrukturen.

Ich wünsche Euch allen alles gute Jahr 2021
Euer Jojo

[1] ich meine damit den Aspekt das im Calvinismus „individueller und wirtschaftlicher Erfolg“ mit der Gnade Gottes zusammenhängen.

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Bild von Anja auf Pixabay

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